"IN DER BEGEISTERUNG FÜR DEN FUSSBALL SIND WIR ALLE GLEICH."

Wolfgang Thierse war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundes­tages. Im Gespräch mit DFB-Redakteur Thomas Hackbarth blickt der 79-Jährige auf die Entwicklung des Fußballs und erinnert sich mit dem Langzeitgedächtnis an das „Wunder von Bern“ und Sepp Her­berger.

Herr Thierse, Sie gehören dem Jahrgang 1943 an und wuchsen in Thüringen auf. Wie haben Sie die Weltmeisterschaft 1954 aus dem Osten des geteilten Deutschlands erlebt? 
Ich war ein 10-jähriger Junge und klebte am Radio. Mein Vater las irgendetwas und staunte über meine Freudentänze, die ich dort mitten im Wohnzimmer aufführte, als wir bekanntlich erst ausglichen und schließlich sogar 3:2 in Führung gegangen waren. Ich weiß es noch genau, dieser Moment, als mein Bruder kurz ins Wohnzimmer kam, den Kopf schüttelte und wieder rausging. Geblieben bei mir ist bis heute das Gefühl, was für eine absolute Überraschung der Sieg von Herbergers Mannschaft darstellte. Neun Jahre nach diesem furchtbaren Krieg, nach dem deutschen Verbrechen, gelang diese Sensation, diese nie erwartete sportliche Überraschung. Noch heute kann ich die Aufstellung auswendig. Das Langzeitgedächtnis eines Kindes (lacht).

Haben Sie damals selbst Fußball gespielt?
In meiner kleinen Stadt wurde auf der Straße und auf Bolzplätzen Fußball gespielt. Später im Verein stellte man mich auf die Position des rechten Läufers.

Ihr Vater war Rechtsanwalt. Hatten Ihre Eltern Berührungsängste zum Spiel der einfachen Menschen?
Nein, das habe ich nie so verspürt. Die Fußballbegeisterung war und ist nicht sozial unterteilt. Auch heute bewegt der Fußball Millionen und Millionen quer durch alle sozialen Schichten. Das Interesse am Fußball bewegt den einfachen Malocher wie auch den feinen Intellektuellen. 

Der Fußball ist heute ein anderer als zu Zeiten Sepp Herbergers. Wie erleben und bewerten Sie den kulturellen Wandel des Fußballs?
Ich empfinde das schon als eine zwiespältige Entwicklung. Fußball begeistert, weil es ein Kampfsport ist, ein Mannschaftssport, Fußball ist elegant, das Spiel hat eine ästhetische Qualität. Die Leidenschaft der Spielerinnen oder der Spieler überträgt sich auf die Ränge. All das macht die Schönheit des Fußballs aus. Aber wenn ich heute mit meinen Enkeln Fußball schaue, muss man ständig hören, wie viel der Verkauf dieses Spielers gebracht, wie viel dieser Spieler gekostet hat. Die Summen gehen weit über das hinaus, was gewöhnliche berufstätige Menschen für verträglich halten. Fußball ist ein Beruf, Fußballer verdienen zu Recht hohe Gagen. Aber dass es heute um Abermillionen geht, Summen, denen keinerlei Leistung entsprechen kann, sehe ich persönlich sehr kritisch. Jeder Versuch der vergangenen Jahre, das Rad etwas zurückzudrehen, ist gescheitert – und ich kann momentan keine Kräfte ausmachen, die sich dem widersetzen könnten. 

Sepp Herberger engagierte sich sozial, zu seinem 80. Geburtstag errichtete er mit dem DFB die erste deutsche Fußball-Stiftung. 1989 wurde die Stiftung die alleinige Erbin der kinderlosen Eheleute. Ist Ihnen Herbergers Engagement später einmal begegnet?
Natürlich habe ich vom Wirken der Sepp-Herberger-Stiftung gehört. Und natürlich habe ich später auch erfahren, dass er schon während der 1930er-Jahre Fußballtrainer war. Sepp Herberger ist während der Nazi-Diktatur nicht durch irgendwelchen Widerstand besonders aufgefallen. Durch seine Kontakte hat er versucht, seine Spieler so gut es ging zu schützen, wie etwa Fritz Walter. Ich will sicher nicht Schuldzuweisungen verteilen – und wenn, dann in dem Sinne, dass wir insgesamt ein Volk der Mittäter und Mitschweiger waren. Umso wichtiger ist es aus meiner Sicht, dass Sepp Herberger später beschloss, sich über den Fußball hinaus sozial zu engagieren. Dass er sich vielleicht selbst in die Pflicht nahm, als Bürger dieses Landes, als sozialer Mensch. 

In einem „Mission Statement“ heißt es, „Fußball schafft Orte der Gemeinschaft“. Realität oder Wunschdenken? 
Wenn’s gut geht, ist der Fußball genau das, im Stadion, in der Kreisliga auf dem Platz oder versammelt vor dem Fernseher, ein Ort der Gemeinschaft, ein gesellschaftlicher Kitt. Aber es geht leider nicht immer gut. In der Begeisterung für den Fußball sind wir alle gleich. Der Fußball nivelliert die Unterschiede, das soziale Gefälle. Aber zu Sepp Herbergers Zeiten stand man noch Schulter an Schulter im Stadion. Und jetzt gibt es Logen, Business Seats, Firmen buchen teure Jahresabonnements. Die Begeisterung im Stadion ist immer noch groß, wenn auch manche vermögenderen Herrschaften das Spiel nur noch als stimmungsvollen Hintergrund für ihre Geschäftsgespräche nutzen. 

Gehen Sie selbst ins Stadion?
Ich leide momentan bei den Heimspielen von Hertha BSC.

Über 1954 haben wir gesprochen. Kommen wir noch kurz auf ein anderes Fußballspiel zu sprechen, 20 Jahre später in Hamburg. 
Jürgen Sparwassers Tor habe ich damals am Fernseher verfolgt. Und ich habe mich sofort geärgert. Nicht weil ich es der Nationalmannschaft der DDR nicht gegönnt habe, sondern weil ich sofort wusste, das wird am nächsten Tag propagandistisch vom SED-Regime ausgeschlachtet.  

Sie wurden für Ihr Beharren auf die eigene Meinung früh abgestraft, als wissenschaftlicher Mitarbeiter wurden Sie 1975 entlassen, nachdem Sie sich geweigert hatten, eine Erklärung zur Ausbürgerung von Wolf Biermann zu unterzeichnen. Haben Sie danach an Flucht gedacht?
Ach wissen Sie, wer als Bürger der DDR lebte und zugleich mit diesem Staat und seiner Ideologie und seinen Unfreiheiten nicht einverstanden war, der hat immer mal an Flucht gedacht. Schon in der Schulzeit, bis 1961, immer verlor man Freunde, deren Familie in den Westen abgehauen war. Nach dem 13. August folgten zwei Jahrzehnte, da konnte fast niemand abhauen, wir waren effektiv eingesperrt. In den achtziger Jahren stieg die Zahl der Flüchtenden wieder steil an. Ein Westdeutscher versteht diese absurde Situation nicht. Man musste sich rechtfertigen, vor anderen und auch vor sich selbst, dass man da lebte, wo man lebte. Ich bin in Breslau geboren worden, meine Familie wurde aus Schlesien vertrieben und landete in Thüringen. Ein biografischer Zufall. Mein Leben in der DDR, das waren dann sehr komplexe Gedanken und komplizierte Emotionen. Eine Mischung aus Angst und Bequemlichkeit, aber auch Treue, zu Freunden, zu Verwandten. Auch Unsicherheit und dieser Gedanke, dass doch nicht alle abhauen können, dass wir versuchen müssen, dieses Land zum Besseren zu verwandeln. 1989 wurde das immer stärker – vielleicht ist etwas möglich an Veränderung.

Zum Abschluss eine Kulturfrage: Lieber Puhdys oder Gundermann?
Also, ich habe zu DDR-Zeiten nie ein besonderes Interesse für Popmusik entwickelt. Aber Manfred Krug fand ich immer großartig. Er konnte das, so eine männliche Sentimentalität. Er war der einzige Filmstar, den die DDR hervorgebracht hat. Er sang mit Leidenschaft und gleichzeitig hörte ich auch immer eine Spur Ironie. Das hat mir immer gut gefallen.


Jubiläumsbriefmarke „125 Jahre Sepp Herberger“ 

Anlässlich des 125. Geburtstags von Sepp Herberger erschien am 1. März 2022 eine Sonderbriefmarke. Auf ihr ist als Motiv ein Fußball zwischen zwei Spielern und Sepp Herbergers legendäres Zitat „Das Runde muss ins Eckige“ abgebildet. Die Briefmarke hat den Portowert 85 Cent, mit dem z. B. ein Standardbrief frankiert werden kann. Die Sondermarke ist in Postfilialen, im Online-Shop oder telefonisch beim Bestellservice der Deutschen Post erhältlich.